Marktbreit als Zentrum der Frühneuzeitlichen Welt

Marktbreit: Der Kaiser, die Schwarzenberg und die Juden. Eine Mikrogeschichte des Aufstiegs und Niedergangs eines imperialen jüdischen Raums

 

Dr. Stephan Wendehorst (Justus-Liebig Universität Gießen/Universität Wien)


Gegenstand des Forschungsprojekts sind Funktionsweise und Wandel der durch transterritoriale, imperiale Herrschaftsform und hierarchisch, korporative Gesellschaftsverfassung gekennzeichneten Vormoderne Zentraleuropas. Am Ausgangspunkt der Analyse der Transformationsprozesse von der traditionalen Herrschafts- und Gesellschaftsordnung zu souveränem Staat und moderner Nation stehen zwei mit der Vormoderne in spezifischer Weise strukturell verbundene soziale Formationen: Adel und Judenheit. Ein Zugang zu den auf die Herstellung einheitlicher Staatlichkeit und eines einheitlichen Untertanen- bzw. Staatsbürgerverbands abzielenden Staatswerdungs- und Nationsbildungsprozessen erschließt sich spiegelbildlich in der Geschichte der De-Korporation und Integration von adeligen und jüdischen Gruppen. Verlängerungen und Mutationen von Elementen dieser beiden sozialen Formationen von der Vormoderne bis ins 20. Jahrhundert hinein, die sich dem Homogenisierungstrend unter staatlichen und nationalen Vorzeichen entzogen, werden als inverse Geschichte der Verstaatungs- und Nationalisierungsprozesse der Moderne gelesen.

Den konkreten Ansatzpunkt für den mikrohistorischen Zugriff auf den Gegenstand des Forschungsvorhabens bildet ein spezifischer Ausschnitt der Vormoderne: Marktbreit, ein Ort mit einer weit vernetzten jüdischen Gemeinde und das wirtschaftliche Zentrum des fränkischen Herrschaftskomplexes der Schwarzenberg, einer eng mit der Funktionselite des Hl. Röm. Reichs wie der damit teilidentischen Habsburgermonarchie verbundenen Adelsfamilie. In der zweiten Hälfte des 17. und im 18. Jahrhundert hatte sich das mit kaiserlichen Freihandelsprivilegien und Zoll- und Abgabefreiheiten ausgestattete Marktbreit zu einem der bedeutendsten Handels- und Umschlagplätze im oberdeutschen Raum für Waren aller Art, insbesondere für Kolonialwaren entwickelt. An der südlichsten schiffbaren Stelle des Mains gelegen, wurden in Marktbreit von Übersee, Amsterdam und Frankfurt über Rhein und Main eingeführte Güter für den Weitertransport in Richtung Donau auf Pferdefuhrwerke umgeladen. Auch wenn die Errichtung eines bayerischen Zollamts zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Bedeutung Marktbreits unterstrich – in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts war Marktbreit dasjenige bayerische Zollamt, das nach Nürnberg die zweithöchsten Einnahmen im Königreich verbuchte – setzte mit dem Untergang des Alten Reichs, der Eingliederung in den bayerischen Staatsverband und dem Bau der Eisenbahn (zunächst an Marktbreit vorbei) der Niedergang ein. Lediglich auf einzelnen Gebieten, wie dem Kaffeeimport, konnte Marktbreit bis ins späte 19. Jahrhundert hinein eine überregionale Bedeutung behaupten.

Mit dem Forschungsprojekt sind zwei übergeordnete Zielsetzungen verbunden. Erste Zielvorgabe ist die mikrohistorische Rekonstruktion des sozialen Raumes Marktbreit als einer Schnittstelle von jüdischen, imperialen und ökonomischen Räumen in der Vormoderne sowie die Analyse ihrer Funktionsweise. Zweites Ziel - aus dieser spezifischen mikroanalytischen Perspektive heraus - ist eine kritische Interpretation der Transformationsprozesse, die die traditionale Herrschafts- und Gesellschaftsordnung Zentraleuropas in den modernen Staat und die moderne Nation des 19. und 20. Jahrhunderts überführten.

Der methodische Zugriff auf den Gegenstand bündelt drei Zugänge, integrierte Geschichts- und Kulturwissenschaft, Mikrohistorie und inverse Geschichtsschreibung. Unter „integrierter Geschichts- und Kulturwissenschaft“ ist hier die Kombination von Ansätzen verschiedener historischer Teildisziplinen und benachbarter Fachrichtungen zu verstehen, nämlich der jüdischen Geschichte und Kultur im Sinne von Geschichte der Juden – d.h. in Wechselwirkung mit der nicht-jüdischen Umwelt – mit Wirtschafts-, Politik-, Kirchen-, Rechts-, Stadt- und Regionalgeschichte. Besonders zur Geltung kommen Ansätze aus der Imperienforschung, der Erforschung von Grenzen, der Migrationsforschung und der kulturellen Repräsentation und symbolischen Praxis von Einheit und Pluralität.

Die Imperienforschung verspricht entscheidende Impulse zur Entschlüsselung der Blütezeit Marktbreits. Ansatzpunkte bieten charakteristische Eigenschaften imperialer Herrschaftsausübung wie Symbiose mit lokalen Eliten, der funktionalen Kooptation wirtschaftlich potenter Gruppen, dem Verzicht auf die Ausbildung umfassender Herrschaftsstrukturen und stattdessen Rückgriff auf eine dünne Schicht von Funktionsträgern.

Marktbreit lag in der Mitte des Hl. Röm. Reichs und war trotzdem in mehrfacher Hinsicht Grenzort. Erst mit der Integration in Staat und Nation werden die vielfältigen ständischen, korporativen und konfessionellen Binnengrenzen nach außen getragen. Vertikale Zuordnungen werden durch horizontale ersetzt. Grenzen sind trotz einer gewissen ihnen anhaftenden Exotik vielfach negativ konnotiert und seit dem 19. Jahrhundert durch nationale Gegensätze aufgeladen. Parallel mit der Herausbildung des territorialen Staates markieren Grenzen zwei voneinander deutlich getrennte Herrschaftseinheiten, sie zementieren geradezu Gegensätze. In der Frühen Neuzeit dagegen treten Herrschaftsgrenzen zwar auch als Hindernisse auf, besitzen aber noch nicht die Kraft eindeutiger Zuordnungen und markieren damit auch Räume besonderer Handlungsoptionen. Gerade Konstellationen, die durch überlappende Herrschaftsansprüche und sich überkreuzende Grenzlinien gekennzeichnet sind, erweisen sich als Räume geringer Homogenitätsdichte und relative Freiräume. Für die Entschlüsselung der Funktionsweise des Mikrokosmos Marktbreit bieten die diesen Raum durchziehenden herrschaftlichen, sozialen und konfessionellen Grenzen und das Wechselspiel ihrer Bestätigungen und Aufhebungen einen zentralen Zugang.

Die Bevölkerung Marktbreits wies im 17., 18. und 19. Jahrhundert in Stärke und Zusammensetzung erhebliche Fluktuationen auf. Dies betraf in erster Linie den jüdischen Bevölkerungsteil, aber auch den katholischen und protestantischen. Den unterschiedlichen Push- und Pullfaktoren kommt damit erhebliche Bedeutung zu. Marktbreit war nicht nur als Handelsplatz attraktiv. Judenvertreibungen, etwa durch die französischen Armeen im 17. Jahrhundert aus der Pfalz oder durch Maria Theresia aus Prag, spiegelten sich in der demographischen Entwicklung Marktbreits wider.

Das Ausbalancieren von Einheit und Pluralität war entscheidende Voraussetzung für das Funktionieren des Mikrokosmos Marktbreit. Ein Mittel zur Untersuchung der Dynamik von Einheit und Pluralität bietet die Untersuchung von Formen der Repräsentation und der symbolischen Herrschaftspraxis, wie sie durch die jeweiligen Kalender der Konfessionen und der Herrschaft, des Staates und der Nation verlangt wurden. Neben den verschiedenen christlichen und jüdischen religiösen Festen sind die Erbhuldigungen mit ihrem ausgefeilten, teils integrierten, teils konfessionell differenzierten Zeremoniell zu untersuchen.

Bei der mikrohistorischen Analyse, wie sie hier verwendet wird, ist zweierlei zu beachten. Erstens geht es nicht um die klassische Mikrohistorie oder „dichte Beschreibung“, sondern um die mikrohistorische Analyse einer spezifischen Konstellation übergreifender Räume, von Netzwerken und tiefgreifenden tektonischen Verschiebungen des Herrschafts- und Sozialgefüges. Zweitens verändert sich der mikrohistorische Zugriff mit dem Untersuchungsgegenstand. Im ersten Teil ist mit Marktbreit ein konkreter Verdichtungspunkt imperialer, jüdischer und wirtschaftlicher Beziehungsgeflechte und dessen Funktionsweise Gegenstand einer mikrohistorischen Analyse. Im zweiten Teil dagegen werden die tektonischen Verschiebungen Zentraleuropas aus der mikrohistorischen Perspektive Marktbreits, aus dem Blickwinkel eines zwar am Rande stehenden, aber mitbetroffenen Beobachters analysiert. Auch nach der Übersiedlung des Hauptsitzes der Schwarzenberg zunächst nach Wien, später nach Böhmen, blieben die Rückwirkungen der zentraleuropäischen Umwälzungen auch in den fränkischen Besitzungen der Schwarzenbergs spürbar.

Unter „inverser Geschichtsschreibung“ ist hier zu verstehen, dass der Umbruch von der Vormoderne zur Moderne nicht aus der Perspektive der das 19. und 20. Jahrhundert bestimmenden Prozesse der Durchsetzung des souveränen Staates, der Nationsbildung und der Herstellung einer auf der Gleichheit der Individuen beruhenden Bürgergesellschaft geschrieben wird, sondern aus dem umgekehrten Blickwinkel, der Perspektive der Auflösung und partiellen Kontinuität vormoderner Herrschafts- und Gesellschaftsstrukturen mit ihren korporativen, transterritorialen und transnationalen Komponenten.