Jüdische Notablenversammlung und Sanhedrin 1806/1807: Die Napoleonische Herrschaft als Wendepunkt der staatskirchenrechtlichen Verhältnisse der Juden in Europa
Als Wasserscheide zwischen Vormoderne und Moderne in der Geschichte der Juden in ihren Beziehungen zur nichtjüdischen Umwelt gilt gemeinhin die Französische Revolution. Die vollständige bürgerliche Gleichberechtigung der Juden als Individuen, die die französische Nationalversammlung 1790 zunächst für die sephardischen Juden und kurz darauf für die aschkenasischen Juden beschloß, setzte Maßstäbe, und dies in politischer wie in historiographischer Hinsicht. Die vollständige individuelle Emanzipation der Juden nach französischem Modell war das Ziel der Emanzipationsbemühungen in all denjenigen Ländern, in denen Juden keine gleichen Rechte besaßen. Sie bildete auch den Gradmesser, an dem sich die Geschichtsschreibung vornehmlich orientierte, wenn sie die rechtliche Lage der Juden beurteilte.
Ein anderes Bild ergibt sich, wenn nach den Rechtsverhältnissen der Juden als Gruppe gefragt wird. Diese Frage, die 1790/91 nicht gestellt worden waren, bzw. sich erst gar nicht gestellt hatte, setzte Napoleon 1806 auf die Tagesordnung der nach Paris einberufenen jüdischen Notablenversammlung und des Sanhedrin. Die Antworten, die 1806/07 auf die Frage nach der Stellung der Juden in Staat und Gesellschaft gegeben wurden, bildeten die Grundlage der kontinentaleuropäischen Versuche, Juden als Gruppe einen Platz in Staat und Gesellschaft zuzuweisen und im Staatskirchenrecht rechtlich zu verankern.
Der Vortrag behandelt einen Ausschnitt aus dem Habilitationsprojekt „Die Vergessene Seite der Emanzipation? Die Stellung der Juden in der Religionsverfassung des Hl. Röm. Reichs und seiner Nach-, Teilnach- und Nachnachfolgestaaten“, das Stephan Wendehorst an der Justus-Liebig-Universität Gießen durchführt.
Dr. Stephan Wendehorst studierte Neuere und Alte Geschichte, Volkswirtschaft und Rechtswissenschaften an der Ludwig-Maximilians-Universität München. 1996 promovierte er in Neuerer Geschichte an der Universität Oxford. Zwischen 1999 und 2005 war Wendehorst leitender Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Stellvertretender Direktor des Simon-Dubnow-Instituts für jüdische Geschichte und Kultur an der Universität Leipzig. Seit 2009 ist er Feodor-Lynen Rückkehrstipendiat der Alexander von Humboldt Stiftung bzw. leitender Wissentschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Institut der Justus-Liebig-Universität Gießen. Des Weiteren ist Dr. Wendehorst kommissarischer Koordinator des Forschungsclusters „Jüdisches Hl. Römisches Reich. Geschichte der Juden als Geschichte von Zwischenräumen eines polyzentrischen Politik-, Rechts- und Sozialsystems – The Jewish Holy Roman Empire” („History of the Jews as History „In Between“ in a Polycentric Political, Legal and Social System“), schreibt eine Studie über „Die vergessene Seite der Emanzipation: Die Juden in der Religionsverfassung des Römisch-Deutschen Reichs und seiner Nachfolgestaaten“ und lehrt Geschichte der Frühen Neuzeit an der Justus-Liebig-Universität Gießen sowie Rechtsgeschichte an der Universität Wien.